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Handlungsfelder und Handlungskompetenzen des Erziehers in der stationären Altenhilfe – eine Standortbestimmung

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In den letzten Jahren wurden in den meisten luxemburgischen Alten- und Pflegeheimen vermehrt Erzieher eingestellt. In vielen anderen sozialen Arbeitsbereichen, insbesondere in der Kinder- und Jugendarbeit, stehen die Handlungskompetenzen der Erzieher seit Jahrzehnten außer Frage. Hier haben Professionalisierungstendenzen eingesetzt und die Erzieher haben dort Handlungsfelder besetzt, die ihnen niemand streitig macht.

Von Jörg Bidinger

In Bezug auf die Tätigkeit in der stationären Altenhilfe kann jedoch bisher noch längst nicht die Rede davon sein, dass die Handlungskompetenzen des Erziehers dort problemlos anerkannt sind und eine entsprechende Bedeutung erlangt haben.

Denn nicht immer ergreifen die Erzieher in den Einrichtungen der stationären Altenpflege unproblematisch die Chance, ihren Part in einem multidisziplinären Team zu übernehmen, wenn sie sich ihnen bietet, noch wissen umgekehrt die Kollegen der anderen Berufsgruppen (zumeist Kranken- und Altenpfleger, aber auch Ergotherapeuten und Physiotherapeuten), was sie von einem Erzieher zu erwarten haben, wenn er zu ihnen stößt. Ähnlich hilflos stehen nicht selten auch die Leitungen der Institutionen da, wenn es darum geht, aussagekräftige Stellenbeschreibungen für Erzieher in der stationären Altenpflege zu erstellen und deren Einsatzfelder jenseits pflegerischer oder hauswirtschaftlicher Handlungsaufträge und Tätigkeiten zu definieren.

Zur weiteren Verunsicherung trägt bei, dass der deutsche Begriff „Erzieher“ nicht das gleiche beschreibt wie der im frankophonen und anglo-amerikanischen Sprachraum gebräuchliche Begriff „Educateur“. Wo im Deutschen „erziehen“ zunächst einmal die geleitete Einübung in lebenspraktische Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen meint, geht „Edukation“ weiter und umfasst einen viel weiteren Bildungsbegriff im Sinne von  „lebenslangem Lernen“.

 

Während also einerseits unzweifelhaft Schwierigkeiten im beruflichen Selbst- und Fremdverständnis des Erzieherberufes im hiesigen Arbeitsfeld bestehen, ist andererseits dieser Berufsgruppe im Alltag der meisten luxemburgischen Alten- und Pflegeheime eine immer größere, zumindest quantitative, Bedeutung zugewachsen.

Es erscheint daher geboten, eine positive Bestimmung des Erzieherberufes und dessen Handlungsspielraum im Einsatzfeld der stationären Altenhilfe vorzunehmen.

Von echten Handlungs- “Spielräumen“ der Erzieher in Arbeitsfeldern der stationären Altenhilfe kann erst dann die Rede sein, wenn die beteiligten Berufsgruppen „kooperieren“ und nicht in einem hierarchischen Delegationsverhältnis zueinander stehen (hiermit sind ausdrücklich nicht betriebliche, durch die Organisationsstruktur der Institution determinierte, Hierarchien, sondern Hierarchien, wie man sie im Verhältnis zwischen Krankenpfleger und Pflegehelfer antrifft gemeint, also die hierarchischen Beziehungen zwischen Fachkraft und Hilfskraft). Im Kooperationsfall spricht man dann von einem „multidisziplinären Team“. Team ist ein Begriff, der aus dem Mannschaftssport stammt, daran sollte man sich beim Gebrauch dieses Begriffes stets erinnern. Der Begriff multidisziplinäres Team ist darüber hinaus eng verbunden mit dem der Therapeutischen Gemeinschaft im Rahmen der Milieutherapie, die in den letzten Jahren auch in der Betreuung und Pflege Demenzkranker Bedeutung erlangt hat. In der Milieutherapie wird betont, dass der Behandlungsverlauf eher durch das soziale und räumliche Umfeld des Betroffenen, als durch die (Demenz)-Erkrankung selbst bestimmt wird. Milieutherapie meint also eher eine therapeutische Grundhaltung, der zufolge nicht den einzelnen therapeutischen Interventionen, sondern dem Betreuungs- und Behandlungsmilieu als Ganzem eine therapeutische Wirkung zugeschrieben wird. Die meisten Alten- und Pflegeheime stellen heutzutage implizit an sich selbst den Anspruch, milieutherapeutische Elemente in ihren Alltag zu integrieren.

Welche Rolle spielt in einem solchen Arbeitsfeld der Erzieher?

Will man diese Frage von der Literatur her beantworten, wird man weitgehend im Stich gelassen.

Im Alltag der stationären Langzeitpflege wird der Erzieher in der Regel als Experte gesehen für alles, was außerhalb der rein pflegerischen Handlungen liegt. Gerne werden ihm auch hauswirtschaftlich orientierte Aufgaben übertragen, für die die Pfleger oft „keine Zeit“ haben. Damit werden die Handlungskompetenzen des Erziehers jedoch verkürzt. Mitunter wird dem Erzieher auch unterstellt, er sei der Experte für Alltagsprobleme und ihrer Bewältigung, er kenne das Herkunftsmilieu der Bewohner und könne aufgrund dieser Kenntnis dessen Ressourcen entfalten helfen, während die Medizin und die Pflege den Bewohner lediglich in seiner „Abweichung von der gesundheitlichen Norm“ betrachte.

Relativ klar definiert ist die Rolle der sozialpädagogischen Berufe in der Betreuung älterer Menschen, wenn man sich Einrichtungen wie Seniorenbegegnungsstätten (z.B. Club Senior) betrachtet. Dort aber sind die Vertreter dieser Berufsgruppen unter sich und das Problem von Kooperation und Abgrenzung der Berufsgruppen stellt sich erst gar nicht.

Wie kann also die Rolle der Erzieher im Pflegeheim oder in einem Wohnbereich der stationären Langzeitpflege, beschrieben werden?

Zunächst zu den Gemeinsamkeiten des beruflichen Handelns aller Beteiligten im multidisziplinären Team, also zu dem, was man auch als „Schlüsselqualifikationen“ bezeichnen kann:

  • Die Fähigkeit zur kritischen Reflexion der eigenen Berufsrolle
  • Fähigkeit zu einer analytischen und selbstkritischen Bewertung der eigenen Arbeit
  • Vertrautheit mit den institutionellen Rahmenbedingungen des eigenen beruflichen Handelns
  • Fähigkeit, die eigenen „handwerklichen“, wissenschaftlichen und therapeutischen Grundpositionen im Licht konkurrierender Ansätze zu reflektieren
  • Ein von allen geteilter Zugang des „methodisch kontrollierten Fallverstehens“. Das heißt, den Bewohner verstehen zu lernen als Individuum unter Rückgriff auf wissenschaftliches und therapeutisches Wissen vom Typischen, vom Allgemeinen der Erkrankungen im Alter.

Soweit die Gemeinsamkeiten des beruflichen Handelns im multidisziplinären Team. (Die spezifische Handlungskompetenz der pflegerischen Berufsgruppen muss hier nicht näher erläutert werden, ist sie ja auch nicht Gegenstand dieser Betrachtung.)

Nun zu dem, was die spezifische Handlungskompetenz des Erziehers im multidisziplinären Team einer stationären Einrichtung der Altenpflege ausmacht:

  • Im Idealfall kennt der Erzieher durch seine Ausbildung die milieuspezifischen Gegebenheiten der Herkunft des Bewohners (Familiengeschichte, Nachbarschaft, Beruf etc.). Er kennt auch die institutionelle Situation (Hilfsangebote, Freizeitangebote, Rechtslage). Damit wird er zur Brücke zwischen dem „Innen“ und dem „Außen“, was sich unter anderem in einer tragenden Rolle des Erziehers bei der Durchführung von Angeboten mit Einbeziehung von Angehörigen und Ehrenamtlichen auswirken könnte.
  • Aufgrund seines spezifischen Wissens bezüglich gruppendynamischer Prozesse, scheint der Erzieher besonders geeignet, problem- und in einem sehr weit gefassten Sinne therapeutisch orientierte Angebote mit bestimmten Bewohnergruppen durchzuführen.
  • Durch seine besondere Kenntnis milieuspezifischer Gegebenheiten, die Bestandteil seiner Ausbildung sind, trägt der Erzieher dazu bei, einem Konzept von Normalität zur Geltung zu verhelfen, das nicht von einer absoluten Norm ausgeht. Normen sind Ergebnisse von Aushandlungsprozessen, sie sind milieuspezifisch, und am Rande der Norm taucht auch immer das Ungeregelte auf, das auch zum Leben dazugehört. Je mehr eine Einrichtung der Durchlässigkeit der Welt außerhalb ihrer selbst entbehrt, desto eher tendiert sie dazu, die Normen ihrer Welt zu absoluten Normen zu erheben. Hier tritt dann der Erzieher aufgrund seiner differenzierten Kenntnis einer Fülle von Milieuwelten in gewisser Weise als „Störfaktor“ auf.
  • Des Weiteren tritt der Erzieher als Arbeiter am Milieu auf. Bei der Beantwortung der Frage: „Wie wird eine Einrichtung zum therapeutischen Milieu?“ dürften die Erzieher einen gewichtigen Beitrag leisten können, vor allem bei der Gestaltung der Einrichtung, des Tagesablaufs, beim Angebot unterschiedlicher kompetenzorientierter Gruppenaktivitäten, bei der Entscheidung über die Art der Freizeitgestaltung und die Inhalte soziokultureller Angebote.

An dieser Stelle stößt man auch auf eine typische Schwierigkeit bei der Gestaltung eines therapeutischen Milieus im Zusammenhang mit der Kooperation und der Abgrenzung unterschiedlicher Berufsgruppen im Alltag eines Pflegeheimes:

  • Wenn der Erzieher federführend als Organisator eines therapeutischen Milieus auftritt, tangiert er immer auch Bereiche, die traditionell vom Pflegepersonal besorgt werden, welches ja bekanntlich 24 Stunden am Tag den Alltagsbetrieb einer Station bzw. einer Einrichtung aufrechterhält. Andererseits ist das Pflegepersonal aus verschiedenen Gründen (Organisation der Dienste, fehlende Kenntnisse) oft mit der Aufgabe überfordert, ein problemspezifisches, zielorientiertes und differenziertes Gruppenangebot zu entwickeln und aufrecht zu erhalten. Hier ist eine wechselseitige Verständigung erforderlich, wer welche Aufgaben übernimmt. Anderenfalls wird darüber gestritten, wer mit dem Bewohner ein Paar Schuhe kaufen geht, was weder dem Bewohner noch den beteiligten Berufsgruppen nützt. Was in den einzelnen Handlungsfeldern inhaltlich durchgeführt wird, sollte in regelmäßigen Fallbesprechungen zusammenlaufen, wo die am pflegerischen Prozess beteiligten  Berufsgruppen ihre Perspektive zum Fallverstehen beitragen.
  • Weiterhin ergeben sich mögliche Überschneidungen mit dem pflegerischen Handeln. Reicht die Betrachtungsweise der Kranken- und Altenpflege beim Bewohner häufig in dessen Organismus hinein, so sieht der Erzieher den Bewohner zunächst in seinen sozialen Bezügen. Wird die Kooperation dann nicht als das Zusammenfügen von Perspektiven bzw. Sichtweisen, sondern im Rahmen eines Entweder / Oder gesehen, wird aus der Kooperation Konkurrenz, die niemandem nützt, erst recht nicht dem pflegebedürftigen Menschen.
  • Ein weiteres Konfliktfeld ist die Zusammenarbeit mit Psychologen, Ergotherapeuten, Logopäden und Physiotherapeuten. Viele Erzieher sind mangels eines tragfähigen Konzepts der Rolle ihres Berufsstandes innerhalb des multidisziplinären Teams dazu übergegangen, sich individualtherapeutische Techniken anzueignen und ihre Kompetenz auf diesem Gebiet auszuweiten (übrigens trifft man dieses Phänomen auch bei vielen Pflegekräften in der stationären Altenpflege an). Dadurch geraten sie jedoch leicht mit anderen Berufsgruppen ins Gehege, die dieses Gebiet traditionell besetzt haben. Naheliegender wäre es, dass sich Erzieher solche Techniken aneignen, die ihrem Berufsfeld gemäß sind: Familientherapeutische Techniken, Psychodrama, Gesang, Musiktherapie, Bewegung und andere gruppentherapeutisch orientierte Verfahren, die dem Erhalt oder der Wiedererlangung bestimmter Kompetenzen dienen.

Folgende speziellen Kenntnisse und Kompetenzen sollte man von einem Erzieher im Arbeitsfeld der stationären Altenhilfe erwarten können:

Spezielle theoretische Kenntnisse:

  • Grundbegriffe der Gerontologie
  • Grundkenntnisse in Geriatrie, Krankheiten im Alter
  • Grundkenntnisse in Demografie
  • Kenntnisse der Geschichte und Kultur Luxemburgs
  • Altenpolitik in Luxemburg
  • Kenntnisse rechtlicher Vorgaben, beispielsweise der Pflegeversicherung

Spezielle praktische Kompetenzen:

  • Anwendbare Kenntnisse in ausgewählten, zielgruppenorientierten Gesprächstechniken
  • Kenntnisse zielgruppenorientierter Techniken aus dem Themengebiet Erhalt bzw. der Verbesserung der Gedächtnisfunktion
  • Kenntnisse biografie-orientierter Betreuungsansätze und -konzepte
  • Gute organisatorische Fähigkeiten zum Gestalten und Durchführen von Ausflügen, Urlaubsmaßnahmen, Freizeitmaßnahmen und kulturellen Veranstaltungen
  • Kenntnisse in Haushaltsführung und Haushaltstechniken (Kochen, Backen)
  • Kenntnisse von Beschäftigungs- und Betreuungsmöglichkeiten für alte bzw. pflegebedürftige Personen
  • Ausführung sportlicher bzw. motorischer Aktivitäten, Gymnastik, Psychomotorik
  • Fähigkeit zur Durchführung musikalischer Aktivitäten in Gruppen
  • Kenntnisse altersangemessener Spieltätigkeiten
  • Anwendung von Kreativtechniken (z.B. Holz, Seide, Wolle, Ton…)
  • Kenntnisse elementarer Angelegenheiten pflegerischer Grundversorgung

Jörg Bidinger hat Sozialpädagogik studiert und anschließend mehrere Jahre als freier Berufsbetreuer im Süden Deutschlands gearbeitet.  Seit 1999 ist er in Luxemburg tätig. Von 2005 bis 2020 war er als Coordinateur Soutien und Chargé de Qualité in der Maison de Soins Op Lamp in Wasserbillig beschäftigt.Zudem hat er an der Universität Luxemburg ein Masterstudium in Gerontologie absolviert und ist dort mittlerweile auch Lehrbeauftragter in sozialwissenschaftlichen Studiengängen (z.B. BSSE – Modul „Leben im Alter“).

Seit April 2020 ist er beim geroPRO verantwortlich für dem Bereich Fortbildung.

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